Sonntag, 9. August 2015

Nur ein einziges Wort von dir... [Teil 3] Tom



Hallo ihr Lieben!
Wieder eine Woche geht zu Ende. Bevor wir morgen wieder in den stressigen Arbeitsalltag verfallen, wollte ich das zweite Kapitel meiner Geschichte mit euch teilen. Wie gefällt sie euch bisher?
Jills Leben ist überschattet von Angst und Einsamkeit. Seit dem Verschwinden ihrer Eltern verfolgt sie eine dunkle Alptraumgestalt, die ihr verbietet über die damaligen Ereignisse zu sprechen. Ihr einziger Vertrauter ist eine alte Weide, der sie in Briefen ihre dunkelsten Geheimnisse verrät. Dies ändert sich allerdings, als Tom, ihr Mitschüler, in ihr Leben tritt. Etwas an Jill fasziniert ihn so sehr, dass er nicht locker lässt, bis er schließlich erfährt, was in jener schicksalshaften Nacht vor so vielen Jahren passiert ist. Und auch Jill fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich sicher in seiner Gegenwart, doch der Schattenmann aus ihrer Vergangenheit kennt keine Gnade.
Viel Spaß beim Lesen!






Seit zwei Tagen war dieses Mädchen schon hier an meiner Schule und ich kannte nichts außer ihrem Vornamen. Eigentlich entging mir nichts, wenn ich andere Schüler beobachtete, doch bei Jill war das viel schwieriger. Bisher war sie in mindestens fünf von meinen Kursen und kein einziges Mal habe ich sie sprechen hören. Mädchen in ihrem Alter sprechen für gewöhnlich sehr viel, wenn auch meist nur sehr komisches Zeug, das ich nicht sonderlich verstehe. Aber wer will denn schon als Junge wissen, was momentan für Nagellackfarben "in" sind oder welcher Vampir aus welcher Serie denn nun der beste ist?
Sie sagt einfach keinen Ton. Nicht mal mit den Lehrern hat sie geredet, wenn ich das richtig mitbekommen habe, hat ihnen nur einen Zettel unter die Nase gehalten und ist dann in die hinterste Reihe, dort wo sonst nur die total „coolen“ Leute sitzen. Als einige dieser Schüler sie darauf angesprochen hatten, hatte sie einfach so getan, als hätte sie sie nicht gehört.
Nerven musste die haben! Man durfte die sogenannte Oberschicht hier nicht unterschätzen, sie konnten zu fast allem fähig sein, auch wenn die meisten unter ihnen nichts auf dem Kasten hatten. Ich hielt mich eigentlich immer fern von solchen Leuten, aber was Jill getan hatte, würde vermutlich noch Konsequenzen haben. Wenn man sie so ansah, konnte man überhaupt nicht glauben, dass sie so still, oder sollte ich eher verschlossen sagen, war.
Sie sah aus, wie ein ganz normales Mädchen eben aussah. Lange dunkelbraune Haare und offenbar eine Vorliebe für geblümte Stoffe, wenn man das nach zwei Tagen schon beurteilen konnte. Normalerweise hätte sie schon am ersten Tag mindestens eine neue Freundin finden können, doch sie schien ja nicht normal zu sein.
Was noch komischer war, die Lehrer riefen sie nicht ein einziges Mal auf. Das konnte an einer unausgesprochenen Schonfrist für Neulinge liegen, insbesondere wenn diese mitten im Schuljahr gewechselt hatten, doch hätten sie Jill wenigstens gebeten, sich kurz vor der Klasse vorzustellen. Das tat man eigentlich immer, wenn man irgendwo neu war, oder? Das war bei uns bisher immer der Fall gewesen, aber sie schien wohl eine Ausnahme zu sein.
Was wohl mit ihr nicht stimmte, dass sie sich so seltsam verhielt?
War sie taub?
Oder stumm?
Wohl eher nicht, denn sonst hätte man sie in eine andere Schule geschickt. Oder bemühte sich unser geliebter Schulleiter nun um „gemischte“ Klassen? Das scheint mir irgendwie auch unrealistisch, sonst hätte er doch was gesagt, so wie der auf den guten Ruf unserer Schule achtet. Aber was war es dann?

Schon gestern hatte ich mich gewundert, mich aber mit der Erklärung abgefunden, dass sie einfach zu schüchtern war, um gleich auf andere zuzugehen. Doch mittlerweile wurde die ganze Sache immer merkwürdiger. Ich überlegte schon die ganze Zeit, ob ich zu ihr gehen sollte, um mit ihr zu sprechen. Aber was war, wenn sie mich nicht mochte? Oder ich könnte in einen Streit mit den ach so beliebten Volltrotteln geraten und darauf habe ich wirklich keine Lust. Vor allem dann nicht, wenn irgendwelche Sportasse daran beteiligt waren. Durch die konnte man, wenn man an die Falschen geriet, ziemliche Demütigung und möglicherweise auch starke Schmerzen erleiden, je nachdem, wie sehr sie einen hassten. Zwar gehörte ich glücklicherweise noch nie zu ihren Opfern, doch wollte ich auch in Zukunft heil und unversehrt bleiben.
Aber Jill tat mir irgendwie leid, zu erklären warum, bin ich nicht in der Lage. Es war einfach so. Vielleicht weil sie so verloren und einsam aussah, oder es lag einfach an ihrer merkwürdigen Verschlossenheit, die ich einfach nicht verstehen konnte. Außerdem kam sie mir so bekannt vor, beinahe so, als hätte ich so schon mal irgendwo gesehen, die Erinnerung daran fehlte mir jedoch. Es war mehr eine Art Ahnung oder Gefühl, das ich nicht näher beschreiben konnte.
Wer weiß, vielleicht stimmte der Quatsch mit den früheren Leben doch und ich kannte sie von dort. Es soll ja Dinge geben in dieser Welt, die sich nicht mal die schlausten Wissenschaftler erklären können.
Ich hatte nicht bemerkt, dass es geläutet hatte, so versunken war ich in meine Gedanken. Unser Mathelehrer war schon da und blickte mit strengem Blick in die Klasse. Vermutlich suchte er sich gerade ein Opfer aus, das er mit seinen schweren Aufgaben quälen konnte. Neben mir lief gerade Jill mit einem ihrer Briefe vorbei und hielt auf den glatzköpfigen Mitvierziger zu, um diesem dieses geheime Dokument zu übergeben. Ich wünschte, ich kannte den Inhalt, aber ich war kein Lehrer und würde deshalb kein einziges Wort davon zu Gesicht bekommen.
Mit ernster Miene, die bei Herr Peterson schon Gang und Gäbe war, las er die Nachricht und blickte Jill etwas irritiert an. Seine Verwunderung legte sich jedoch, als ihm das Mädchen ein schüchternes Lächeln schenkte und wandelte sich, zu meiner Verwunderung, in einen so düsteren Gesichtsausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte.
Was konnte da nur drinstehen?
Warum reagierte er so seltsam auf sie?
Fragen über Fragen häuften sich in meinem Kopf an und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich an Antworten darauf kommen sollte.
Schließlich konnte ich schlecht zu ihr gehen und sagen: „Hey Jill! Ich bin Tom. Warum bist du immer so komisch und redest nie? Was steht da in deinem Brief, den du allen Lehrern gibst? Willkommen an unserer Schule! Fühl' dich wie daheim!“
Nein, das konnte ich wirklich nicht bringen, aber was sollte ich denn sonst tun? Ich glaube, ich bin einfach zu neugierig.
Während ich darüber nachdachte, wie ich an meine Antworten kommen konnte, kehrte Jill wieder an ihren Platz zurück und schwieg weiterhin, selbst als ihr die Volltrottel und Tussis blöde Kommentare an den Kopf warfen. Es war offensichtlich, dass sie die Neue nicht mochten, und ich war wirklich eine Sekunde lang versucht, aufzustehen und denen mal gehörig die Meinung zu sagen. Bei dem Gedanken an die Konsequenzen ließ ich es lieber bleiben. Stattdessen versuchte ich, die ganzen Fragen auszublenden und mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Das hatte ich auch bitter nötig, da ich nicht der Hellste in Mathematik war, was mich bei Peterson zu einem potentiellen Kandidaten machte, den er ausfragen und ihn noch ganz nebenbei bloßstellen konnte. Darauf war ich heute überhaupt nicht scharf, vor allem durch meine merkwürdige Verwirrtheit hervorgerufen durch Jills Auftreten.

Zu meiner Verwunderung schien jedoch nicht ich, sondern unser schweigsamer Neuzugang dran zu sein, da er sie schon mit seinem gruseligen Blick musterte. Wann immer man so von Peterson angesehen wurde, wusste man sofort, dass es kein Entrinnen geben und dass man furchtbar leiden würde. Keine physischen Schmerzen, sondern psychische. Kaum einer an unserer Schule konnte ihn ausstehen und bei mir stand er an erster Stelle meiner absoluten Hasslehrer.
„Fräulein Warren, um zu sehen, wie sehr Sie in der Mathematik bewandert sind, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Ich hoffe auch, sie können sie beantworten.“ Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf seinem sonst so ernstem Gesicht, vertrieb jedoch nicht die tiefen Stirnfalten, die ihn auf gewisse Art und Weise älter wirken ließen, als er es eigentlich war.
Ich drehte mich zu ihr um und sah, dass sie keineswegs erfreut über diese Aufforderung war.
Ob sie nun antworten würde?
Wie ihre Stimme wohl klang?
„Wären Sie bitte so freundlich, an die Tafel zu kommen? Es ist so müßig ein Gespräch zu führen, wenn man so weit voneinander entfernt ist.“
Ich war ein wenig überrascht, denn sonst war Peterson nicht der Typ, der jemanden an die Tafel holte, nur weil er zu weit weg war. Es musste mehr dahinterstecken, da war ich mir sicher. Vielleicht hatte es sogar mit dem Brief zu tun oder aber er hatte eine ganz besonders gemeine Strategie entwickelt, sie zu quälen. Eines war auf jeden Fall sicher, ich wollte nicht in ihrer Haut stecken und obwohl ich sie überhaupt nicht kannte, nicht mal ihre Stimme gehört hatte, drückte ich ihr unter der beschmierten Tischplatte die Daumen. Ohne zu wissen, warum, betete ich sogar, dass er es Jill nicht allzu schwer machte. Und ich war nicht einmal gläubig.
Während sie sich nach vorne begab und sich mit unsicherem, fast ängstlichem Blick umsah, hörte ich hinten die Deppen tuscheln. Genervt verdrehte ich die Augen und ignorierte das Geflüster. Warum mussten die sich auch immer über alles lustig machen?
Hatten sie nichts Besseres zu tun?
An der Tafel drückte Peterson der völlig verängstigten Jill ein Stück Kreide in die Hand und lehnte sich gegen das Lehrerpult, das etwas abseits am Fenster stand. Ein Schwarm Vögel flog gerade an unserem Klassenzimmer vorbei und kreischten so laut, dass sich einige Schüler erschrocken nach ihnen umsahen. Ich ebenfalls, weswegen ich nicht mitbekam, wie unser Lehrer der Neuen die erste Aufgabe stellte. Sie musste bloß rechnen, nichts sagen. Und sie war, soweit ich das beurteilen konnte, wirklich gut. Um ihre Ergebnisse hervorzuheben, unterstrich sie diese doppelt, sprach jedoch nicht mit Peterson.
Das kam mir ziemlich komisch vor. Normalerweise fragte er die Schüler, die gerade auf seiner Abschussliste standen, über alle möglichen Dinge aus. Doch Jill schrieb nur und unterstrich, kein einziger Laut drang über ihre Lippen. Wo andere gelangweilt gähnten, weil die erhoffte „Show“ ausblieb, wunderte ich mich nicht zum ersten Mal an diesem Tage über dieses sonderbare Mädchen.

Später, in der Mittagspause, sah ich sie abseits von den anderen Sitzen. Sie tat mir irgendwie leid, so ganz allein. Also beschloss ich, zur größten Verwunderung meiner Freunde, mich zu ihr zu setzen und mich mit ihr zu unterhalten.
Jill sah kurz auf, als ich mein Tablett neben sie abstellte, doch ansonsten kam keine Reaktion von ihr. Sie sagte weder „Hallo“, noch lächelte sie. Irgendwie wurde sie mir langsam unheimlich.
„Hey! Du bist Jill, richtig?“ Ich versuchte so freundlich, wie möglich zu klingen.
Sie antwortete nicht.
Vielleicht war sie einfach nur schüchtern, dachte ich nicht zum ersten Mal und setzte mich auf den roten Plastikstuhl.
„Ich bin Tom. Wir haben ein paar Kurse zusammen... Ich dachte, wir könnten uns vielleicht unterhalten...“ Durch ihr seltsames Verhalten wurde ich unsicher, was man wohl auch meiner Stimme angehört hatte. Leicht verärgert blickte sie mich an, deutete auf den dicken Schal um ihren Hals und stand wortlos auf, ohne mir zu erklären, was sie hatte. Hoffend, dass sie bloß Halsschmerzen und deswegen mit keinem von uns gesprochen hatte, machte ich mich zurück auf den Weg zu meinen Freunden, die mich entweder irritiert oder amüsiert musterten.
„Na, hat wohl nicht so geklappt, was Tom? Die Kleine hat wohl was gegen unsere Schule oder gegen uns...“ Mike, ein sehr aufdringliches Computergenie lächelte verschmitzt.
Für seine blöde Bemerkung erhielt er prompt von Jessica, der ersten Vorsitzenden des Gesangsclubs unserer Schule, einen Hieb mit der Faust.
„Gott, Mike, das Mädel ist einfach nur schüchtern! Ich finde es gut, dass Tom versucht hat, mit ihr zu sprechen. Sie tut mir irgendwie leid, so ganz allein...“ Nachdenklich sah Jessica in Richtung des Tisches, wo Jill gesessen hatte. Die meisten von uns stimmten ihr zu. Ich war der Meinung, dass sie uns nicht leid tun sollte, sondern dass wir mit ihr reden sollten, aber das behielt ich für mich.

Wer weiß, vielleicht ist sie nach der Schule ja nicht mehr so komisch...







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