Sonntag, 13. September 2015

Nur ein einziges Wort von dir... [Teil 8] Jill


Hallo ihr Lieben!
Ich habe dieses Wochenende zum Lesen und Entspannen genutzt. Was habt ihr so gemacht oder noch vor? Vielleicht ein bisschen hier weiterlesen?
Jills Leben ist überschattet von Angst und Einsamkeit. Seit dem Verschwinden ihrer Eltern verfolgt sie eine dunkle Alptraumgestalt, die ihr verbietet über die damaligen Ereignisse zu sprechen. Ihr einziger Vertrauter ist eine alte Weide, der sie in Briefen ihre dunkelsten Geheimnisse verrät. Dies ändert sich allerdings, als Tom, ihr Mitschüler, in ihr Leben tritt. Etwas an Jill fasziniert ihn so sehr, dass er nicht locker lässt, bis er schließlich erfährt, was in jener schicksalshaften Nacht vor so vielen Jahren passiert ist. Und auch Jill fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich sicher in seiner Gegenwart, doch der Schattenmann aus ihrer Vergangenheit kennt keine Gnade.






Am nächsten Morgen schleifte mich Lucy aus dem Bett. Gestern hatte sie einen der Jungs aus der Bar geholt, dass er meine Tür aufbricht, weil sie dachte, ich würde mir etwas antun. Wie ein kleines Kind zog sie mich an, kämmte mir die Haare und schminkte mich sogar. Ich ließ es, ohne mit der Wimper zu zucken, zu. Ich fühlte mich seit der letzten Nacht so leer und tot, dass ich mich eigentlich überhaupt nicht mehr bewegen wollte.
Der böse Mann war die ganze Zeit bei mir gewesen und hatte mich geschimpft. Sein Messer hatte so groß ausgesehen. So viel Blut klebte daran. Ich wollte nicht in die Schule, konnte mich jedoch nicht gegen meine Tante wehren. Sie sagte kein Wort zu mir, als wir in meinem Zimmer saßen und sie mich fertig machte. Ich wusste, dass sie sich Vorwürfe machte, aber ich hatte keine Ahnung, was ich hätte sagen sollen. Egal, wie sehr ich es versuchte, ich bekam meinen Mund einfach nicht auf. Ich konnte ja nichtmal meine Hand heben, um aufzuschreiben, was ich ihr sagen wollte.
Mir gehts gut, Lucy. Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.
Ob sie es mir geglaubt hätte, das war eine andere Sache. Mal ehrlich, ich sah nicht so aus, als wäre alles okay bei mir. Nein, mein Spiegelbild erinnerte mich irgendwie an einen wandelnden Zombie. Und so würde ich heute in die Schule gehen. Ich hoffe doch sehr, dass Tom nun zufrieden war.
Was er wohl denken würde, wenn er mich so sah?
Im Vergleich zu den dunklen Gedanken des bösen Mannes wird es schon nichts Schlimmes sein.
Ob er mir dort auch auflauern würde?
Er ist verschwunden, nachdem Lucy heute früh in mein Zimmer gekommen war. Aber ob er auch fort blieb, wenn ich in der Schule war, war damit nicht gesagt.
Als sie mit ihrer Schönheitsbehandlung fertig war, war ich kaum wiederzuerkennen. Ich sah zwar nicht mehr so aus, wie ein willenloser Zombie, der Gehirne fressen wollte, doch konnte ich mich mit meinem neuen Spiegelbild, eine scheinbar drogensüchtige Rockerbraut, auch nicht anfreunden. Aber ich hatte ja keine Wahl, schließlich musste ich heute in die Schule. Zum Glück war Freitag. Es dauerte nicht mehr lang, bloß ein paar langweilige Unterrichtsstunden, dann konnte ich mich wieder in mein Bett kuscheln und mich vor dem bösen Mann verstecken. Obwohl ich wusste, dass es zwecklos war, wollte ich es dennoch versuchen.

Während ich, wie automatisch zur Schule lief und dabei den Umweg um den Park herum nahm, dachte ich pausenlos über Tom nach. Und darüber, wie ich den bösen Mann wieder milder stimmen konnte. Vielleicht hatte mein überneugieriger Mitschüler nicht alles gelesen und kannte mein größtes Geheimnis noch gar nicht. Dann könnte ich die ganzen Briefe mitnehmen und verbrennen, so dass keiner mehr dahinterkommt. Dann wäre der böse Mann auch nicht mehr so gemein zu mir. Ich könnte in Frieden schlafen und würde nicht so aussehen, als hätte ich irgendwelches illegales Zeugs genommen.
Was sollten bloß die Leute von mir denken, wenn sie mich so sahen?
Plötzlich kam wieder Leben in mich. Ich war fest entschlossen diesen Beschluss heute Mittag nach der Schule durchzusetzen. Nur musste ich Tom aus dem Weg gehen. Je weniger er wusste, umso ungefährlicher war er. Und umso weniger wahrscheinlich war eine Bestrafung des bösen Mannes. Wenn er wüsste, was ich vorhatte, wäre er bestimmt begeistert. Dann würde er mich heute Nacht sicherlich in Ruhe lassen und Tante Lucy konnte auch wieder besser schlafen.
Als ich das Schulgebäude betrat, schlug mir die schlechte Stimmung förmlich entgegen. Es war mir, als würden mich alle so komisch anschauen. Damit hatte ich nach meinem Abgang gestern schon gerechnet.
Ob Tom dem Regal hatte noch ausweichen können?
Hoffentlich hatte er sich nicht verletzt.
Moment mal? Was tat ich da gerade? Machte ich mir etwa Sorgen um den Kerl, der meine Therapie zerstört hatte?
Wegen ihm war der böse Mann doch hinter mir her! All die Jahre hatte er mich nur gelegentlich in meinen Träumen besucht. Nur ganz am Anfang war er lange bei mir gewesen. Er wollte sichergehen, dass ich mein Versprechen einhielt, dass ich auch ja nichts sagte. Schon damals hatte er mir eine Heidenangst eingejagt und das war mit der Zeit nicht besser geworden. Auf keinen Fall wollte ich Nacht für Nacht von ihm und seinem blutigen Messer besucht werden.
Heute hatte ich wohl Glück. Tom war in keinem einzigen meiner Kurse, doch ich sah ihn in der Pause auf dem Gang. An seinem Kopf war ein großes Pflaster angebracht worden und er hinkte etwas. Also war er doch unter das Regal gekommen. Ich versuchte, mir einzureden, dass ich nicht dran schuld war, schließlich hatte er mich gepackt und in diesen Raum gezerrt. Aber trotzdem machte sich ein kleiner Teil von mir Vorwürfe, dass wieder jemand wegen mir leiden musste.
Erst Mama, dann Tante Lucy und jetzt auch noch Tom... Das ging zu weit!
Doch offenbar hatte sich die Aktion gestern in der Putzkammer gelohnt. Er sagte kein Wort zu mir. Lediglich sein Blick bereitete mir Unbehagen. Seine hellblauen Augen leuchteten so merkwürdig, als wüsste er etwas.
Panik keimte in mir auf und da sah ich ihn wieder. Jetzt kam der böse Mann sogar schon in der Schule zu mir! Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und lief einfach an ihm vorbei, ignorierte sein Grinsen, doch er verfolgte mich. Die Klinge des Messers blitze bedrohlich im Schein der Neonleuchten. Ich musste ihm von meiner Idee erzählen, vielleicht ließ er mich dann in Ruhe. Ich tat so, als würde ich mich vor ihm verstecken, und betrat die Putzkammer, in der ich gestern Tom beinahe umgebracht hatte. Es dauerte nicht lange, da stand er schon vor mir. Das Messer hatte er hoch erhoben, als würde er jeden Moment zustechen wollen. Augenblicklich beschleunigte sich mein Herzschlag.
„Ich weiß, wie ich mein Versprechen doch noch halten kann...“, dachte ich mit gesenktem Kopf. Der Mann lachte in meinem Kopf und umfasste mit seiner freien Hand mein Kinn. Sie war kalt, eiskalt. Wie der Tod. Er zwang mich, ihn anzusehen. Ich wollte nicht, aber ich musste es tun. Ich konnte es nicht nochmal riskieren, dass er sein Messer in meine Brust rammte.
„Ach, und wie willst du das machen, Jill“, fragte er zurück.
Seine Stimme hallte so laut in meinem Kopf wider, dass ich dachte, er würde gleich zerspringen. Ich zuckte leicht mit den Schultern, antwortete jedoch nicht sofort. Er drückte mit seiner Hand fester zu, das Messer kam bedrohlich langsam näher.
„Ich verbrenne die Briefe, dann kann sie keiner finden.“
Wieder lachte er, die Lampen flackerten für einen Augenblick. Dann ließ er mich los und betrachtete fast schon gelangweilt sein Messer. Vorsichtig wich ich einige Schritte zurück.
„Und der Junge? Was machst du, wenn er etwas weiß?“
Diese Frage erschreckte mich. Daran hatte ich noch nicht gedacht. Was war, wenn Tom auch die anderen Kisten gefunden hatte?
Wieder wich ich einige Schritte zurück und spürte schon bald das kalte Metall der Regale an meinen nackten Armen. Ich war ratlos und das merkte der böse Mann. Wie ein großer dunkler Schatten kam er immer näher und näher. Ich begann zu zittern und versuchte, mich so klein zu machen, wie ich konnte.
„Ich kümmere mich um ihn...“
Das sagte sich zwar relativ leicht, doch das Ausmaß dieser Worte begriff ich erst, als ich sie ausgesprochen hatte. Erneut schallte das Lachen des bösen Mannes in meinem Kopf.
„Du hast doch mehr von mir vererbt bekommen. Ich bin fast schon ein bisschen stolz auf dich, Jill.“ Zärtlich strich er mir über die Wange und war dann urplötzlich verschwunden. Verwirrt und noch immer total panisch blickte ich mich in der Putzkammer um, doch ich konnte ihn nirgends finden. Erleichtert trat ich zurück auf den Gang und kam, natürlich wie immer, zu spät zur nächsten Stunde.

Der Unterricht zog in Windeseile an mir vorbei. Ich wollte bloß auf dem schnellsten Weg zurück in den Park, um alle noch erhaltenen Briefe mitzunehmen und zu verbrennen. Das war etwas, das ich schon längst hätte tun sollen.
Fluchtartig verließ ich nach dem Gong das Schulgebäude und achtete nicht darauf, ob der Lehrer uns schon gehen lassen wollte oder nicht. Wenn ich mich nicht beeilte, wäre Tom mir vermutlich zuvor gekommen und hätte noch mehr herausfinden können.
Ich wollte nicht so werden, wie der böse Mann. Aber er hat gesagt, dass niemand etwas davon erfahren darf. Tom wusste zu viel und er musste dieses Wissen verlieren. Sonst würde der böse Mann wieder kommen und mich hohlen.
Aber um Tom würde ich mich auch später kümmern können. Jetzt mussten erst einmal die Briefe weg. Das war leichter gesagt, als getan. In den letzten Jahren hatten sich so viele in den Kisten angehäuft, dass ich sie kaum mehr in meine Tasche stopfen konnte. Wie gut, dass ich eine leicht perfektionistische Tante hatte, die mir eine Einkaufstasche besorgt hatte, die man ganz klein falten konnte. So konnte ich alle Briefe auf einmal tragen und musste es nicht riskieren, dass jemand die übrigen fand.
Als ich meine neuste Truhe öffnete, fiel mir sofort auf, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Ganz oben drauf lag ein fremder Zettel, den ich garantiert nicht geschrieben hatte. Vielleicht war er ja von dem bösen Mann. Es könnte durchaus sein, dass er mir nochmal deutlich machen wollte, was ich zu tun hatte. Hastig entfaltete ich das kleine Stück Papier und begann zu lesen. Es war nicht der Mann, der mir geschrieben hatte, sondern Tom. Er wollte mir helfen, hatte von dem bösen Mann gelesen. Auch wenn ich es nicht wahr haben wollte, glaubte ich ihm. Es hörte sich alles so ehrlich an.
Jill und Tom... Vielleicht war das ja doch nicht so verkehrt. Er könnte mir vielleicht helfen, den bösen Mann zum Schweigen zu bringen.
Ob Tom böse auf mich war?
Ich glaubte es nicht. Der Brief musste nach dem Regalunfall entstanden sein. Ich sollte mich morgen bei ihm entschuldigen. Aber ob ich lieber auf ihn hören sollte oder auf den bösen Mann, wusste ich nicht. Zuhause verbrannte ich sicherheitshalber ein paar Briefe, damit ich dem Mann sagen konnte, dass ich doch etwas getan hatte. Dann würde er sicherlich nicht ganz so gemein zu mir sein. 







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