Sonntag, 30. August 2015

Nur ein einziges Wort von dir... [Teil 6] Jill


Hallo ihr Lieben!
Gestern hatte ich Geburtstag und würde mich deswegen natürlich über nachträgliche Glückwünsche oder eure Meinung zu "Nur ein einziges Wort von dir..." freuen :)
Was haltet ihr bisher von der Geschichte, schließlich haben wir die Hälfte schon fast erreicht?
Jills Leben ist überschattet von Angst und Einsamkeit. Seit dem Verschwinden ihrer Eltern verfolgt sie eine dunkle Alptraumgestalt, die ihr verbietet über die damaligen Ereignisse zu sprechen. Ihr einziger Vertrauter ist eine alte Weide, der sie in Briefen ihre dunkelsten Geheimnisse verrät. Dies ändert sich allerdings, als Tom, ihr Mitschüler, in ihr Leben tritt. Etwas an Jill fasziniert ihn so sehr, dass er nicht locker lässt, bis er schließlich erfährt, was in jener schicksalshaften Nacht vor so vielen Jahren passiert ist. Und auch Jill fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich sicher in seiner Gegenwart, doch der Schattenmann aus ihrer Vergangenheit kennt keine Gnade.






Als ich am nächsten Morgen durch die breite Glastür unserer Schule trat, hatte ich bereits zittrige Knie und mein Herz raste nur so in meiner Brust. Suchend huschten meine Blicke umher. Um Nichts in der Welt wollte ich heute oder an sonst irgendeinem Tag auf Tom treffen. Es würde glücklicherweise nicht mehr lange dauern bis zum Wochenende. Dann konnte ich mich volle zwei Tage in meinem Zimmer verkriechen, lesen und nachdenken, ohne dass ich hier inmitten all dieser fremden Menschen herumlaufen musste. Bei diesem Gedanken schlich sich doch tatsächlich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. Es verschwand jedoch sogleich, als ich Tom bemerkte. Er lehnte neben meinem Spind und schien auf mich zu warten.
Wie erstarrt blieb ich stehen, ging blitzschnell meine Liste mit Ausreden durch und entschied mich, einen anderen Gang zu nehmen, um zu meinem Klassenzimmer zu kommen. Ich war so erleichtert, dass er mir nicht folgte, und noch mehr, als mir bewusst wurde, dass er in den ersten beiden Stunden nicht mit mir Unterricht hatte.
Warum mir dieser Junge solche Kopfschmerzen bereitete, wusste ich gar nicht. Ich hatte einfach panische Angst vor ihm, weil er mit mir gesprochen hatte. Ich will nicht, dass er etwas über mich herausfindet. Keiner sollte das tun an dieser Schule. Am liebsten hätte ich mich in mein Zimmer eingeschlossen und wäre bloß zum Essen wieder herausgekommen, doch das ging leider nicht. Lucy wäre vermutlich vor lauter Sorgen gestorben. Sie machte sich sowieso viel zu viele Gedanken über mich. Ich bin ein schlechter Mensch. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich wäre nicht so, wenn er das damals nicht getan hätte. Daran will ich überhaupt nicht denken.
Erschrocken merkte ich, wie mir Tränen über das Gesicht rannen. Schnell wischte ich sie fort und blickte mich in meiner Klasse um. Keiner schien es bemerkt zu haben. Was für ein Glück!
Die Stunden verliefen ohne großen Zwischenfälle. Ich wurde zwar an die Tafel gerufen, um verschiedene Zellen zu beschriften, doch das war kein großes Problem für mich. Den meisten Stoff hatte ich schon an meiner alten Schule gelernt. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie hier mit dem Unterricht nicht ganz so schnell vorankamen, wie dort. Oder aber es war bloße Einbildung meinerseits. Wäre ja nicht das erste Mal, dass meine Fantasie mit mir durchging. Der Schatten gestern im Park war ein gutes Beispiel dafür.

Gerade als ich dachte, dieser Tag würde ruhig verlaufen, ohne Komplikationen mit anderen Mitschülern, stand ich vor Tom. Er musste mir aufgelauert haben. Ich war mir ganz sicher, dass ich ihn nirgendwo auf dem Gang gesehen hatte. Er lächelte nicht. Sein Gesichtsausdruck beunruhigte mich. Es war eine seltsame Mischung aus Neugierde, Mitgefühl und ein kleines bisschen Furcht. So hatten die Polizisten damals auch geschaut...
„Hey, Jill!“
Ich ging auf seine Begrüßung nicht ein, versuchte stattdessen an ihm vorbei zu kommen, doch er stellte sich mir in den Weg. Für ein paar Sekunden dachte ich darüber nach, ihn anzugreifen, doch er war viel größer und stärker als ich. Ich hätte keine Chance gehabt, höchstens ein paar blaue Flecken.
„Ich glaube, wir müssen uns unterhalten.“
Seine Stimme war tonlos. Noch nie hatte jemand so mit mir gesprochen. Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Unsanft packte er mich am Oberarm und zog mich mit sich. Weil ich wusste, dass es aussichtslos war, versuchte ich mich erst gar nicht zu wehren. Aber sollte er mich loslassen, würde ich wegrennen. Vielleicht hatte ich wenigstens einmal in meinem Leben Glück und war schneller als er. Meine freie Hand berührte meinen Hals. Voller Freude stellte ich fest, dass ich mir meinen Lieblingsschal umgebunden hatte. Der würde meine Favoritenausrede ganz sicher unterstützen.
In einem engen Raum, voll gestellt bis an die Decke mit Putzmitteln und Toilettenpapier, blieb er schließlich stehen und schleuderte mich regelrecht gegen eines der Metallregale. Aus Angst irgendwelche Gegenstände auf den Kopf zu bekommen, wich ich zur hinteren Seite des Raumes zurück. Das Regal wackelte etwas, doch löste sich keines der Putzutensilien daraus. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass der Plan mit dem Wegrennen wohl nicht mehr in Frage kam. Zwischen mir und der Tür gab es ein Hindernis, das ich so einfach nicht überwinden konnte. Es war Tom.
„Was ist hier los, Jill? Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir?“
Meine Augen weiteten sich als Reaktion auf seine Worte. Im Gegensatz zu den anderen Schülern hier, schien ihm mein für Außenstehende seltsames Verhalten aufgefallen zu sein.
Ich wich noch weiter vor ihm zurück und stieß gegen die Metallstäbe des hintersten Regals. Ich saß wirklich in der Falle. Toms entschlossener Blick verriet mir, dass er nicht nachgeben würde, bis ich ihm alles erzählt hätte. So hatten die Ermittler damals auch geschaut, doch ihnen zu antworten war überhaupt nicht leicht gewesen.
Und bei Tom?
Ich würde ihm nichts erzählen. Noch hatte ich ja die Halsschmerz-Ausrede.
„Würdest du mir bitte mal antworten? Warum redest du mit keinem von uns?“
Da war sie, die Frage auf die ich gewartet hatte. Langsam hob ich meine Hand und deutet auf meinen Hals. Ich tat so, als würde ich sprechen wollen, doch kein Ton drang über meine Lippen. Für einen kurzen Moment glaubte ich, Mitgefühl über seine Züge huschen zu sehen, doch es verschwand sogleich in einem finsteren Blick, der mich an den bösen Mann aus meinen Alpträumen erinnerte. Als das Bild eines mit Blut bespritzten Messers vor meinem inneren Auge auftauchte, wich ich noch weiter zurück und spürte schmerzhaft das kalte Regal in meinem Rücken.
„Deine Ausrede mit den Halsschmerzen glaube ich dir nicht. Ich hab sie gelesen gestern im Park. Warum tust du das, Jill? Warum schreibst du einem Baum, was du denkst? Wieso redest du nicht mit einem Menschen? Mit mir?“
Erschrocken sah ich ihn an. Also war der Schatten doch keine Einbildung gewesen! Es war Tom. Er hatte mich verfolgt! Wütend starrte ich ihn an. Er hatte gerade den Ort meiner Therapie zerstört. Dort hatte ich mich sicher und unbeobachtet gefühlt. Und nun? Jetzt würde ich ganz sicher in der Klapse landen. Wenn er alles gelesen hatte, dann war er der Einzige, der wusste, was damals wirklich passiert war. Er könnte mich der Polizei ausliefern. Was würde meine Tante bloß dazu sagen, wenn sie erfahren würde, dass ich die ganze Zeit gewusst habe, wer es war? Sie würde mich hassen und dann wäre ich ganz allein.

Ich stieß mich von Regal ab, das heftig zu beben begann. Tom, der so erschrocken war, war nicht in der Lage rechtzeitig zu reagieren, so dass ich an ihm vorbeihuschen konnte. Dabei verlor ich allerdings meine Tasche. Aber das war mir in diesem Moment so was von egal, ich wollte bloß weg von diesem Ort, von diesem Psychopathen.
Wie krank musste ein Mensch sein, dass er jemandem folgte, bloß weil der nicht mit ihm sprechen wollte?
An das Ausmaß seiner Störungen wollte ich gar nicht denken. Es gab so vieles, an das ich gar nicht denken wollte. Dafür hatte ich meinen Baum gebraucht, um alles loszuwerden, was ich nicht mit mir herumschleppen wollte. Und nun war diese Möglichkeit des Vergessens einfach so zerstört worden.
Tränen traten mir in die Augen und drohten mir die Sicht zu verschleiern. Hastig wischte ich sie weg, während ich die Tür zum Gang aufriss. Dort herrschte zum Glück kein großer Betrieb. Die Pause war längst vorbei, so dass die meisten der Schüler schon in ihren Klassenzimmern waren. Die wenigen, die sich noch auf den Gängen befanden warfen mir erschrockene, teilweise geschockte Blicke zu. Kein Wunder, schließlich kam ich gerade aus einer engen Abstellkammer und sah total verheult aus. Drinnen krachte das Regal zusammen und begrub Tom vermutlich darunter, dem Stöhnen nach zu urteilen. Ich achtete nicht darauf und rannte so schnell es meine Beine zuließen auf den Ausgang zu. Auch als ich mehrere hundert Meter vom Schulgebäude entfernt war, verlangsamte ich mein Tempo nicht. Ich mied den Park und machte einen großen Umweg, um zurück in unser kleines Apartment zu kommen. Lucy war heute Morgen noch nicht dort gewesen. Vermutlich hatte sie noch etwas mit ihrem Chef zu besprechen gehabt. Ich betete darum, dass sie noch immer nicht daheim war und wurde, mal wieder, von meinem Glück enttäuscht. Als ich die Tür mit vor Anstrengung keuchendem Atem und geröteten Wangen öffnete, stand sie bereits in der Küche und machte sich etwas zu Essen.
Ohne auf sie zu achten, sprintete ich in mein Zimmer, ließ die Tür krachend ins Schloss fallen und drehte den Schlüssel so oft um, wie es ging. Erschöpft und mit stechenden Seiten ließ ich mich auf mein Bett fallen. Draußen hämmerte eine besorgte Lucy gegen das Holz der Zimmertüre, doch ich achtete nicht auf sie. Viel mehr musste ich dringend darüber nachdenken, was ich nun tun sollte.
Zu meiner Trauerweide konnte ich ja nicht mehr. Tom kannte das Versteck und könnte die Briefe lesen. Ich verwünschte mich dafür, dass ich sie nicht gleich, nachdem ich sie geschrieben hatte, verbrannt hatte. Mein Leben war vorbei! Wenn er wirklich so interessiert an mir und meiner Geschichte war, dann würde er vermutlich alle Briefe lesen. Er würde mehr über mich wissen, als meine Tante, wahrscheinlich sogar mehr als ich, schließlich waren die Briefe zum Vergessen da. Wenn er mit den Informationen zur Polizei gehen würde, dann würde erneut ein Pressewirbel um mich und meine Familie aufkommen. Ich wusste nicht, ob ich das nochmal heil überstehen könnte. Nicht einmal weglaufen konnte ich. Wenn sie erstmal die Leichen gefunden hätten, würde man mich suchen lassen. Ich wäre nirgendwo mehr sicher.
Und der böse Mann?

Der würde mich gleich als Erster finden. Er findet mich immer, sogar in meinen Träumen. Vor ihm kann ich mich nicht verstecken. Früher oder später würde er mit dem Messer vor mir stehen. Zitternd zog ich mir meine Decke über den Kopf und atmete flach. Ich tat so, als wäre ich überhaupt nicht da. Das musste ich damals auch tun, aber er hat mich trotzdem gesehen. Dann musste ich ihm versprechen, dass ich nichts sagen würde. Aber wenn die Polizei die Briefe in die Hände bekommen würde, hätte ich mein Versprechen gebrochen. Dann wüssten sie, was passiert war und wer daran schuld war. Ich wollte gar nicht daran denken, was er mit mir tun würde. Ich sah das Messer schon vor mir, wie es sich meiner Brust langsam näherte. Ich schrie nicht, wimmerte bloß und blickte in die verrückten Augen des bösen Mannes. Er war wütend, weil ich etwas gesagt hatte, weil die Polizisten wussten, was er getan hatte. Ich schlang die Decke noch fester um mich, da ich glaubte, sie könnte mich vor der tödlichen Klinge schützen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nie mehr mein Zimmer verlassen konnte. Ich schloss die Augen und ließ es einfach geschehen.





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