Sonntag, 16. August 2015

Nur ein einziges Wort von dir... [Teil 4] Jill


Hallo ihr Lieben!
Langsam gehen mir die Ideen für diesen Introtext aus. Deswegen lasse ich es diese Woche einfach sein :)
Jills Leben ist überschattet von Angst und Einsamkeit. Seit dem Verschwinden ihrer Eltern verfolgt sie eine dunkle Alptraumgestalt, die ihr verbietet über die damaligen Ereignisse zu sprechen. Ihr einziger Vertrauter ist eine alte Weide, der sie in Briefen ihre dunkelsten Geheimnisse verrät. Dies ändert sich allerdings, als Tom, ihr Mitschüler, in ihr Leben tritt. Etwas an Jill fasziniert ihn so sehr, dass er nicht locker lässt, bis er schließlich erfährt, was in jener schicksalshaften Nacht vor so vielen Jahren passiert ist. Und auch Jill fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich sicher in seiner Gegenwart, doch der Schattenmann aus ihrer Vergangenheit kennt keine Gnade.





Als der Gong nach der siebten Stunde endlich ertönte, hatte ich meine Sachen bereits gepackt und musste lediglich darauf warten, dass unser Lehrer die Stunde beendete. Hier schien es wohl eine unausgesprochene Regel zu sein, dass man erst dann gehen konnte, wenn derjenige, der die Stunde hielt, es einem erlaubte. An meiner alten Schule war das nicht so gewesen, doch ich konnte mich daran gewöhnen. Ob es mir gefiel, war eine andere Sache. Ich mochte es nicht, so lange alleine unter so vielen fremden Menschen zu sein.
Mit meiner Tante wäre das etwas anderes, doch ich bezweifle sehr, dass sie Lust hätte, sich jeden Tag mit in den Unterricht zu setzen, nur um mir ein Gefühl von Sicherheit zu geben.
Und wie würde ich dann vor meinen Klassenkameraden dastehen?
Ich war wohl jetzt schon untendurch.
Warum dieser Junge sich heute mit mir unterhalten wollte?
Wie war sein Name noch gleich? Ach ja genau, er hieß Tom. Tom und Jill... Das klang irgendwie komisch... Nein, das würde nicht funktionieren. Ich hatte in den letzten Jahren kaum Freunde und das wird sich wohl auch nicht so schnell ändern. Das war der Fluch meiner Vergangenheit, etwas, das er mir angetan hatte. Ich würde immer allein bleiben mit oder ohne Lucy.

Herr Piers, ein kahlköpfiger Mittfünfziger, deutete ohne ein Wort auf die Tür und gab uns somit das Zeichen, dass wir gehen durften. Er war ein seltsamer Mann. Physiklehrer. Das erklärte meiner Meinung nach alles. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben einen Lehrer in diesem Fach gehabt, der auch nur halbwegs normal gewesen war. Möglicherweise war das der Fluch der Physik, wer wusste das schon?
Mit höchster Eile packte ich meine Tasche und verschwand noch vor allen anderen aus dem abgedunkelten Saal. Damit mich dieser merkwürdige Junge, dieser Tom, nicht nochmal anquatschte, hastete ich durch die Gänge und atmete erleichtert auf, als ich endlich draußen war.
Ich mochte die Natur, den frischen Duft der Luft, auch wenn ich in einer Stadt lebte. Es gab einen Ort, den ich so sehr liebte, dass ich dort meine gesamte Freizeit verbrachte. Den Stadtpark. Dort stand mein Baum, das einzige Lebewesen, dass all meine Geheimnisse und Gedanken kannte, die ich in Kisten zwischen seinen Wurzeln vergraben hatte. Dieser Ort war meine Therapie, und vermutlich auch der Grund, warum ich noch nicht in die Irrenanstalt eingewiesen worden war.
Hätte mir meine Mutter damals nichts davon gesagt, ich wäre in all dem Schmerz ertrunken. Aber so konnte ich ihn mir von der Seele schreiben und zumindest für eine Weile vergessen.

Ich konnte es kaum erwarten, endlich auf meiner Lieblingsbank zu sitzen mit Blick auf den großen Teich und dennoch verborgen in hohen Sträuchern. Ich wollte meinem einzigen Freund sagen, was geschehen ist. Ich wollte ihm von Tom erzählen und was ich von unserer Begegnung hielt.
Als ich ankam, sah ich, dass meine Bank glücklicherweise nicht belegt war. Schon ein paar Mal war es vorgekommen, dass dort irgendwelche zugedröhnten Drogenjunkies mehr tot als lebendig vor sich hin vegetiert haben. Das war wohl der Fluch der Großstadt... Irgendwie ist jeder verflucht, wenn man es recht bedachte. Mal mehr, mal weniger. Es kommt eben ganz auf die Person an. Ich für meinen Teil, glaube, dass mein Fluch besonders stark ist, wenn man das, was schon alles in meinem Leben passiert ist, in Betracht zog...
Ich zückte meinen Block und einen Stift, begann zu schreiben und ließ alle Ereignisse des Tages nochmals Revue passieren. Nach einer halben Stunde hatte ich meinen bisherigen Tag auf mehr als drei Seiten zusammengefasst und überlegt, was ich wohl bezüglich Tom tun könnte. Vermutlich nicht viel. Vielleicht sprach er ja auch nie wieder mit mir. Oder er wagte es doch und für diesen Fall wollte ich unbedingt vorbereitet sein.
Ich musste mir Ausreden ausdenken, die ich ihm erzählen konnte, um ihn abzuweisen, da ich nicht so der Typ für die Wahrheit war. Langsam erhob ich mich und streckte meine vor Kälte starren Glieder. Obwohl es erst Herbstanfang war, war es zurzeit erstaunlich winterlich. Wenn die Temperaturen weiter so fallen würden, müsste ich in den nächsten Wochen schon mit Wintermantel zur Schule gehen.
Traurig betrachtete ich ein Blatt, dass ein leichter Windhauch vom Baum geweht hatte und zuckte leicht zusammen, als es leise raschelnd den Boden berührte. Ich mochte den Winter nicht. Es war mir einfach viel zu kalt und manchmal wünschte ich mir, Lucy und ich wären irgendwohin gezogen, wo es wärmer war.
Der Herbst war sogar noch schlimmer. Es tat mir fast in der Seele weh, wie all das schöne Leben um uns herum langsam verwelkte und schließlich starb. Ich konnte Menschen, die den Herbst wegen den Farben der Blätter mochten, nicht verstehen.
Wie konnte man es mögen, wenn etwas starb? Selbst auf so schöne Weise wie im Herbst?
Der Tod ist nicht schön, er war es nie und wird es auch in Zukunft nicht sein. Für diejenigen, die lange leiden mussten, war er vielleicht hilfreich, aber schön ganz gewiss nicht.
Für ein sechzehnjähriges Mädchen hatte ich mir schon oft über das Sterben Gedanken gemacht, vermutlich mehr, als andere Menschen hier auf der Erde. Kein Wunder, ich wurde schließlich jeden Tag damit konfrontiert. Wenn ich in den Spiegel sah oder alte Bilder meiner Familie durchschaute. Der Tod war in meinem Leben allgegenwärtig und Freunde waren wir nie geworden. Er hatte mir meine Mutter genommen, das würde ich ihm nie verzeihen, aber er hatte auch meinen Vater...
Bei diesem Gedanken schüttelte ich bestimmt den Kopf und versuchte diesen zu verscheuchen. Vorsichtig verschwand ich im Dickicht und achtete darauf, kein Geräusch zu machen. Mit den Jahren war ihr zu einer richtigen Meisterin geworden, was das Schleichen auf überwuchertem Waldboden anging.
Ich folgte den kleinen Trampelpfaden, die teils von kleineren Tieren, teils von Menschenfüßen stammten und stand wenige Minuten später vor der alten, knorrigen Trauerweide, deren hängende Äste bis zum Boden reichten. Dort, gut geschützt durch die dicken Wurzeln und bedeckt von einer modernden Schicht Blätter, waren meine Kisten versteckt. Langsam öffnete ich den Deckel der neusten und legte meinen Brief behutsam hinein.
Einen Augenblick verharrte ich dort, dankte dem Baum im Stillen für seine guten Dienste und schreckte auf, als plötzlich ganz in der Nähe ein Ast zerbrach. Blitzschnell war ich wieder auf den Pfaden, hatte vorher die Kiste notdürftig an ihren sicheren Platz befördert, und verschwand schließlich aus dem Stadtpark.
Beim Verlassen des kleinen Wäldchens glaubte ich, einen menschlichen Schatten zu sehen. Doch das hätte genauso gut ein Produkt meiner Angst sein können. Wenn ich mich fürchtete, neigte ich dazu, seltsame Dinge wahrzunehmen oder zu sehen, die in Wirklichkeit überhaupt nicht da waren. Ohne mich nochmal umzudrehen, lief ich mit klopfendem Herzen zurück zu Lucy's Wohnung. Innerlich betete ich darum, dass dieser Schatten, falls er wirklich existierte, meine Kisten nicht fand. Wenn das an die Öffentlichkeit gelangen würde, würden die mich vermutlich für immer und ewig zu irgendwelchen bekloppten Psychopathen ins Irrenhaus stecken. Darauf hatte ich wirklich keine Lust, vor allem weil mir Lucys Berichte durch den Kopf schwirrten, die sie von ehemaligen Kommilitonen gehört hatte.
Ich atmete ein paarmal tief durch und schloss dann endlich die Tür zu unserem Apartment auf. Ein Blick auf die Uhr, es war gerade halb vier, zeigte mir, dass meine Tante eigentlich wach sein müsste. Und tatsächlich drang laute Musik aus der Küche. Schnell zog ich meine Schuhe aus und folgte dem Duft nach Pizza und italienischen Gewürzen und fand meine Tante mit pinker Rüschenschürze fröhlich trällernd auf der Küchentheke sitzend vor. Neben ihr ein halb volles, oder leeres, Glas Whisky. Sie stimmte sich schon für einen weiteren Abend in der Bar ein. Normalerweise trank sie nichts, wenn ich daheim war. Nur dieses eine Glas kurz bevor sie gehen musste. Ich winkte ihr zu und ließ mich auf einen der Stühle fallen.
„Na, wie war dein Tag, Jill?“ Lucy sprang von der Theke, hätte dabei beinahe ihr Glas umgeworfen und schaltete den Radio leiser. Ich zuckte bloß mit den Schultern, was für sie das Zeichen war, besser nicht weiter nachzufragen.
Sie stellte mir einen Teller vor die Nase, auf dem ein großes Stück selbstgemachter Pizza lag, und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
„Muss heute früher los, wir bekommen 'ne neue Anlage und der Boss hat's nicht so mit der Technik. Also muss ich mal wieder ran. Mach dir einen schönen Abend, Süße! Bis morgen früh!“
Ich lächelte sie an und nickte, konnte jedoch nichts erwidern, da sie schon aus der Tür verschwunden war.

Mal wieder war ich allein. Noch immer etwas in Panik, schloss ich die Tür von innen ab. Wenigstens das gab mir ein Gefühl von Sicherheit, und vielleicht der Baseballschläger, der verborgen im Schrank stand. Seit ich denken konnte, war der schon dort und, glücklicherweise, noch nie zum Einsatz gekommen. Dennoch war es gut zu wissen, dass es ihn gab. Nur für den Fall...








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