Sonntag, 2. August 2015

Nur ein einziges Wort von dir... [Teil 2] Jill

Hallo ihr Lieben!
Es ist Wochenende und somit wieder Zeit für einen neuen Teil meiner Geschichte. Der Prolog von letzter Woche hat ja noch nicht so viel hergegeben, aber vielleicht ja das erste Kapitel... Man weiß es nicht, man weiß es nicht :)
Jills Leben ist überschattet von Angst und Einsamkeit. Seit dem Verschwinden ihrer Eltern verfolgt sie eine dunkle Alptraumgestalt, die ihr verbietet über die damaligen Ereignisse zu sprechen. Ihr einziger Vertrauter ist eine alte Weide, der sie in Briefen ihre dunkelsten Geheimnisse verrät. Dies ändert sich allerdings, als Tom, ihr Mitschüler, in ihr Leben tritt. Etwas an Jill fasziniert ihn so sehr, dass er nicht locker lässt, bis er schließlich erfährt, was in jener schicksalshaften Nacht vor so vielen Jahren passiert ist. Und auch Jill fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich sicher in seiner Gegenwart, doch der Schattenmann aus ihrer Vergangenheit kennt keine Gnade.
Viel Spaß beim Lesen :) 






Tante Lucy rief gerade meinen Namen, als ich den Brief fertig schrieb. Ich war mal wieder viel zu spät dran und würde es nicht rechtzeitig schaffen, wenn ich vor der Schule nochmal zur Weide wollte, doch es musste einfach sein. Der knorrige Baum war seit meinem siebten Lebensjahr mein einziger Vertrauter. Er kannte alle meine Geheimnisse, zumindest fast alle. Einige sind inzwischen sicherlich verrottet, aber das machte ja nichts. Mama hat immer gesagt, dass man einem Baum alles anvertrauen kann, weil er einem zuhört. Ich finde es etwas idiotisch, sich mit einer Pflanze zu unterhalten, weswegen ich mich für das Schreiben entschieden habe. Ich weiß, dass er sie nicht lesen kann, meine Briefe, aber es beruhigt mich irgendwie.
„Jill! Du musst los! Willst du gleich in der ersten Wochen unpünktlich sein?“
Lucy, die kleine Schwester meiner Mutter, kam in mein Zimmer und musterte mich mit strengem Blick. Durch ihre seltsame Art, konnte sie diesen Gesichtsausdruck jedoch nie lange halten. Kurz darauf erschien schon ein Schmunzeln auf ihrem Gesicht, das sich sogleich in ein breites Grinsen verwandelte. Schnell kritzelte ich etwas auf einen Zettel.
„Nein, ich beeile mich auch.“
Sie nickte und verließ das Zimmer. Ich konnte hören, wie sie unter die Dusche stieg, ein Ritual, das sie immer nach einer Nacht in der Kneipe durchführte. Als ich sie mal danach gefragt habe, hat sie gemeint, dass sie nur so den Gestank nach Alkohol und Rauch wieder weg bekommt.
Manchmal tut mir Lucy leid. Wegen mir musste sie so viel aufgeben. Seit diesem schrecklichen Tag damals ist sie mein Vormund, oder wie auch immer man das nennt. Sie hat versucht es mir zu erklären, aber ich wollte es nicht hören. Es hat mich zu sehr an damals erinnert. Ich weiß nur, dass sie für mich verantwortlich ist, dass ich bei ihr bleiben muss, bis ich erwachsen bin und dass ich besser auf sie hören sollte. Aber genau das fällt mir oft schwer. Selbst mit fast dreißig führt sie sich noch immer wie ein Teenager auf. Meistens zumindest. Es gibt auch Momente, da ist sie streng, aber nie länger als zehn Sekunden, ehe sie wieder zu lachen beginnt.

Ich schnappte mir meine Schulsachen, den Brief schob ich gefaltet in meine Jackentasche, und verließ unser kleines Apartment in dem großen Haus. Viele Menschen wohnten hier, aber ich habe nie mit ihnen gesprochen. Lucy meinte, dass es besser so wäre. Sie hatte mal gesagt, dass viele hier nicht ganz richtig ticken würden oder „Dreck am Stecken“ hätten. Das hat mir irgendwie Angst gemacht.
Um zur Schule zu kommen, musste ich nicht weit laufen. Nur durch den Park und dann noch eine Straße entlang. Trotzdem verzögerte sich mein Schulweg jeden Tag um mindestens zehn Minuten, da ich immer einen alten Freund besuchte. Ich traf ihn im Park, immer an derselben Stelle. Es tat gut, ihn zu umarmen und ihm von meine Sorgen zu berichten.
Die Weide stand in einer dichten Baumgruppe und war von den ausgetretenen Wegen aus gar nicht zu sehen. Das war mir auch lieber so, denn sonst hätten schon andere Leute meine Geheimnisse erfahren.
Bevor ich mich durch das Dickicht kämpfte, blickte ich mich nach Passanten um, die mich vielleicht sehen könnten, doch da war niemand. Nur ich, ganz allein, wie immer. Gerade jetzt, so kurz vor dem Winter, war es schwer sich hinter den kahlen Bäumchen und Büschen zu verstecken, aber ich bin nicht besonders groß, weswegen es nicht ganz so schlimm war.
Noch bevor ich die winzige Lichtung erreichte, auf der die alte knorrige Weide stand, zog ich den Brief aus meiner Tasche hervor und wäre beinahe über eine Wurzel gestolpert. Ich konnte mich gerade noch abfangen, so dass ich glücklicherweise nicht auf den matschigen Boden fiel. Das hätte mir auch noch gefehlt! Als „Neue“ mit einer mit Dreck beschmierten Jeans in der Schule anzutanzen. Ich fand die Idee meiner Tante, eine andere Schule zu besuchen, sowieso bescheuert. Aber da sie mit den „spießigen Langweilereltern“, wie sie sie nannte, nicht zurechtkam und ich meine Mitschüler auch nicht so recht leiden konnte, schien es doch irgendwie richtig zu sein.
Schon nach meinem ersten Tag stand fest, dass es kein Deut besser war, als auf der alten, aber auch nicht schlechter. Das einzige Problem war meine mangelnde Orientierung. Oder das Schulgebäude war einfach zu chaotisch gestaltet worden. Oft brauchte ich ewig, bis ich ein Klassenzimmer gefunden hatte, aber meine Lehrer hatten seltsamerweise Verständnis für mein häufiges Zuspätkommen. Ob das an meiner Tante lag? Vielleicht hatte sie die Rektorin auf meine „Probleme“ aufmerksam gemacht, oder es wussten eh alle über meine Vergangenheit Bescheid.
Im Grunde war es mir egal, ich redete ja nicht mit ihnen. Warum ich das tat, wusste ich nicht. Ich hatte einfach keine Lust mich mit wildfremden Menschen zu unterhalten. Lucy meinte ja schon öfters, dass ich unter „Xenophobie“, der Angst vor dem Unbekannten, leiden würde. Eine solche Diagnose erhielt ich nur, weil sie einige Semester Psychologie studiert hatte, bevor es passiert ist. Wegen mir hat sie aufgehört und noch mehr gearbeitet. Einen Großteil ihres Tages verbrachte sie in der Kneipe im untersten Stockwerk unseres Hauses. Dort hatte ich auch die Metallkisten gefunden, in denen ich meine Briefe verstaute. Sie musste früher mal Verpackung für irgendwelchen Alkohol gewesen sein, aber die Schrift war kaum noch lesbar, verschwunden unter den Schichten aus Erde und Laub, die sich gebildet hatten, als ich die Kisten zwischen den Wurzeln zumindest teilweise vergraben hatte. Um ehrlich zu sein, interessierte es mich auch nicht, was da drin gewesen war, bevor ich sie gefunden hatte. Die Hauptsache war doch, dass meine Briefe und Geheimnisse einigermaßen vor der Witterung geschützt waren.
Meinen ersten Kasten konnte man gar nicht mehr als solchen erkennen. Der Rost hatte sich wie eine Krankheit in das dünne Metall gefressen und die vielen Papierbögen waren alle schon zu Erde geworden. Irgendwie war ich froh darüber. So waren wenigstens die ersten Schrecken aus meiner Kindheit tot.

Ein Blick auf mein Handydisplay sagte mir, dass ich wohl rennen müsste, um wenigstens zur rechten Zeit am Schulgebäude anzukommen. Das Zimmer zu finden, würde jedoch noch einige Minuten in Anspruch nehmen.
Seufzend legte ich den Brief zu den anderen in meine aktuelle Kiste und schob einen Haufen Laub darüber. Es war feucht und dreckig, weswegen ich mir die Finger abwischen musste, schließlich wollte ich nicht als schmutziger Waldschrat in der Schule ankommen. Lucy hat mir mal gesagt, dass der erste Eindruck zählen würde. Ich bemühte mich wirklich sehr, nett zu sein, aber es gelang mir einfach nicht, mit den anderen Schülern in Kontakt zu kommen. Die hielten mich sicherlich für einen Streber. Zumindest wenn es um schriftliche Tests ging. Mündlich war ich die absolute Niete. Ich brachte einfach kein Wort heraus, wenn ich aufgerufen wurde. Und bei Referaten bekam ich fast ausschließlich schlechte Noten. Woran genau das lag, wusste keiner so recht, nicht einmal ich. Aber zum Glück hatte ich meine Tante, die mich in den Sprechstunden wie eine Art Rechtsanwältin vertrat. Ich hatte sie mal mit meiner alten Lehrerin telefonieren hören. Da hatte sie mich in Schutz genommen und gemeint, ich sei einfach viel zu schüchtern und dass das nichts Schlimmes wäre, wenn man meine Vergangenheit betrachtete.
Ja, meine Vergangenheit. Jeden Tag ist sie bei mir, vieles habe ich hier zwischen den Wurzeln vergraben, aber einiges saß noch immer in meinem Kopf und krallte sich regelrecht an mir fest. Ich wünschte, ich könnte endlich damit abschließen, aber es würde wohl oder übel noch einige Zeit dauern, bis ich wieder einigermaßen normal, in Anführungszeichen, war. Der Baum war eine Art Therapie für mich und irgendwie auch Lucy, die mir mit ihren seltsamen Fachbegriffen zur Seite stand. Sie wusste, dass ich nicht zu solchen Psychodoktoren wollte, auch wenn ich sie mit diesem Begriff etwas beleidigte. Sie wollte schließlich auch mal einer werden und ich hatte ihr das gründlich verbaut. Einmal, schon etwas länger her, da habe ich mich deswegen bei ihr entschuldigt und sie hat mich angesehen und gesagt: „Kleines, durch dich habe ich erst gecheckt, wie beschissen dieser Job ist.“
Ganz früher, als ich noch nicht gewusst hatte, was ein Psychologe war, hatte sie mich zu einigen Sitzungen geschickt, aber dadurch wurde ich nur noch verstörter. Erfreulicherweise sind diese Erinnerungen, im Gegensatz zu anderen, einfach so verschwunden. Vielleicht sind sie ja verrottet mit den Briefen und Geheimnissen aus meiner ersten Metallkiste.

Mit schnellen Schritten verließ ich das kleine Wäldchen mitten in der Stadt und rannte zu meiner Schule. Kaum einer war mehr draußen zu sehen. Sie saßen vermutlich schon alle in ihren Klassen oder waren auf dem Weg dorthin. Ich würde wohl noch eine ganze Weile brauchen, bis ich das richtige Zimmer fand. Ein Blick auf meinen Stundenplan verriet mir, dass ich gleich in der ersten Stunde Mathe hatte. Was für ein toller Zufall! Ich hatte gehört, dass unser Lehrer nicht der netteste sein soll. Ich konnte nur hoffen, dass ich einigermaßen schnell dorthin fand und nicht an die Tafel gerufen wurde. Vorrechnen war noch so eine Sache, die mir nicht gelingen wollte. Zumindest, wenn ich gleichzeitig erklären sollte, was ich tat.

Mit klopfendem Herzen betrat ich das große weiße Gebäude. Mein Blick heftete sich auf die kleinen Schildchen, die neben jeder Tür angebracht waren. Und plötzlich lief ich durch meine permanente Unachtsamkeit in jemanden hinein. Der Junge entschuldigte sich, doch ich schüttelte bloß den Kopf, versuchte mein errötendes Gesicht irgendwie hinter meinen hellbraunen Haaren zu verstecken und lief einfach weiter. Mit dem Wissen, dass alles nur noch schlimmer werden würde, fand ich schließlich wonach ich suchte. Mein Klassenzimmer.






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen